Mehrere abstrakte, bunte Formen ergeben die Silhouette eines Menschen. In weiß auf grauem Untergrund: Neurodiversity.

Jedes Gehirn denkt anders - Neurodiversität und PDF-Barrierefreiheit

geschrieben von
Lisa Huber
veröffentlicht

Egal ob bei ADHS, Legasthenie oder Epilepsie: Die Neurodiversitäts-Bewegung berücksichtigt, dass Informationen und Eindrücke von Menschen unterschiedlich verarbeitet werden. Welche Chancen bietet die PDF-Barrierefreiheit für neurodivergente Nutzer*innen?

Was ist eigentlich „Neurodiversität“? 

Mit „Neurodiversität“ ist zunächst die Annahme gemeint, dass Menschen Sinneseindrücke unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten. Unterschieden wird innerhalb der Bewegung zwischen „neurotypisch“, der Mehrheit der Menschen und „neurodivergent“: Personen, bei denen die neuronale Verarbeitung bestimmter Signale von dieser Norm abweicht. Häufig angebrachte Beispiele dafür sind ADHS (also einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung), das Autismus-Spektrum, aber auch Legasthenie, Dyskalkulie oder Epilepsie. Diese abweichende Wahrnehmung kann zum Beispiel Farben, Lichter, Emotionen oder Buchstaben betreffen.

Medizinisch würden diese Fälle, je nach Symptomen und Schweregrad, in das Feld der kognitiven Behinderungen fallen. Grundsätze der Neurodiversitäts-Bewegung sind allerdings diese Eigenschaften zum Einen zu enttabuisieren; zum anderen versucht man hervorzuheben, dass Defizite nicht zwangsläufig Beeinträchtigungen darstellen oder Krankheiten, unter denen man „leidet.“

So oder so: Unsere Schulen, unser Arbeitsplatz - allgemein unser jetziger Alltag ist häufig nicht optimal für ihre Art der Wahrnehmung ausgelegt. Die moderne Welt birgt Barrieren und Hürden, weil man bislang von einem anderen „Normal“ ausgegangen ist und nach wie vor verlangt, dass sich die Betroffenen diesen Normen anpassen – oder gegebenenfalls ausgeschlossen werden.

Das Beispiel Legasthenie und „Dyslexic friendly fonts“

Neurodiversität ist schon lange Teil von meinem privatem Umfeld. Eine Freundin ist Legasthenikerin und hat noch weitere Sprachfehler. Gerade im Schul- und Unikontext wurden ihr dabei häufig Steine in den Weg gelegt. Das hat sie allerdings nicht aufgehalten, eine begeisterte Leserin zu werden.

Dann kam Corona und dazu Long Covid, was ihre Legasthenie noch einmal deutlich verstärkt hat. In den nächsten zwei Jahren stieg meine Freundin von Büchern auf Hörbücher um. Wann immer sie versuchte wieder zu lesen, begannen nach höchstens einer halben Seite die Buchstaben stärker zu verschwimmen als zuvor; nur um dann wild umherzutanzen. Ihre Konzentration ließ sich nicht länger aufrechterhalten, manchmal setzten starke Kopfschmerzen ein. Auf auditive Möglichkeiten zurückzugreifen, funktionierte zunächst gut; in ihren Worten war es aber dennoch „ein anderes Lese-Erlebnis.“ Außerdem blieb in der Uni das Thema Legasthenie weiterhin eine Herausforderung – denn nur wenige Fachwerke, Skripts im PDF-Format, aber auch Veranstaltungen sind barrierefrei gestaltet.

Vor Kurzem und eigentlich nur aus Zufall stießen wir im Freundeskreis auf „OpenDyslexic“ oder das Themenfeld „Dyslexic friendly fonts“. Das beschreibt unter anderem eine OpenSource-Schriftart, die eigens für Legastheniker entwickelt wurde. Gemeint sind vor allem aber auch herkömmliche Schriftarten (z.B. Arial, Helvetica, Verdana), die aufgrund ihrer Machart besser für Menschen mit Legasthenie geeignet sind. Letztere haben bestimmte Eigenschaften, die sie barriereärmer machen. Das Erfolgsgeheimnis? Die Buchstaben sind hier stärker voneinander abgetrennt, der Platz zwischen ihnen ist demnach größer, zudem gibt es keine ablenkenden Serifen. So gesehen sind es kleine Unterschiede, haben aber eine große Wirkung.  

Auch hier ist wie immer anzumerken, dass eine Unterstützungsmöglichkeit nicht bei allen Betroffenen gleich gut funktionieren muss. Im Fall von meiner Freundin hat es gerade bei ihren Konzentrationsschwierigkeiten sehr geholfen. Obwohl wir den Begriff und die Diskussion darum davor nicht kannten, verriet sie mir, dass sie schon früher in der Schule Referate oft erst einmal in Comic Sans geschrieben hatte – nur um die Schriftart in einem zweiten Schritt für die Klasse und Lehrkraft „anzupassen“. Sie hatte davor schon Gebrauch davon gemacht; ein Entgegenkommen von der „anderen Seite“ hatte es in diesem Sinn allerdings nicht gegeben.

Als ich das erste Mal davon hörte, war ich begeistert und gleichzeitig auch ein wenig frustriert. Von isolierter Legasthenie sind mindestens 4% aller Schüler*innen betroffen – von der weiter gefassten LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) noch sehr viel mehr. Schon ein breiteres Bewusstsein würde uns hier viel weiter bringen. Vor allem bei den Schüler*innen, die von der visuellen Variante von Legasthenie und LRS betroffen sind – also Probleme mit der Zuordnung von geschriebenen Buchstaben haben, weniger mit der auditiven Informationsverarbeitung. Wie viele Schüler*innen würden wohl davon profitieren, wenn sie in der Schule mit Tablets und diversen Schriftarten arbeiten könnten? Hoffentlich finden wir es in naher Zukunft heraus.

Welche Chancen bietet PDF-Barrierefreiheit bei Neurodiversität? 

Ganz allgemein spielt Neurodiversität bei PDF-Dokumenten eine Rolle. Mit Blick auf das Matterhorn-Protokoll, die Grundlage für PDF/UA, gibt es mehrere Prüfpunkte, die ein Mensch noch einmal manuell pürfen muss. Das betrifft Wahrnehmungsunterschiede, die eine Software nicht so einfach simulieren kann, etwa den Prüfpunkt „Flimmer-, Blink- und Blitzeffekte“. Diese könnten bei betroffenen Menschen nämlich epileptische Anfälle auslösen.

Außerdem sind barrierefreie Dokumente nicht nur für Screenreader geeignet, sondern etwa auch für Vergrößerungssoftware, Kontrastprogramme oder andere Lese-Assistenten. Im Idealfall ist der gesamte Text im Dokument maschinenlesbar. Dann kann der Text von einer Software in eine gewünschte Ausgabemöglichkeit umgewandelt werden. Dabei können unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden.

In den WCAG wird auf diesen Punkt besonders im Kriterium 1.3 referiert. Dort heißt es. „Erstellen Sie Inhalte, die auf verschiedene Arten dargestellt werden können (z. B. einfacheres Layout), ohne dass Informationen oder Struktur verloren gehen.“ Letztlich geht es also darum, die Software und das Medium den User*innen anzupassen, anstatt anders herum. Dort setzen sowohl PDF-Barrierefreiheit als auch die Neurodiversitäts-Bewegung an.

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