Im Vordergrund ist ein grünes Dokument von dem 3 Sprechblasen ausgehen mit dem Inhalt: <p>, <h1>, <img>. Im Hintergrund ist das Icon eines Lautsprechers.

Unterwegs mit dem Screenreader - ein Perspektivwechsel für zwischendurch

geschrieben von
Lisa Huber
veröffentlicht

Wie fühlt oder hört sich PDF-Barrierefreiheit für eine Person mit Sehbehinderung an? Wir hatten die Möglichkeit mitzuerleben, wie ein blinder Screenreader-Nutzer durch ein Dokument navigiert. Hier gibt es die spannendsten Punkte zum Nachlesen. Für alle, die Lust auf einen kleinen Perspektivwechsel haben. 

Erste Eindrücke 

Was als Erstes gemacht werden muss, als der Screenreader-Nutzer das Dokument öffnet, ist die Sprechgeschwindigkeit des Screenreaders deutlich nach unten zu drehen. Zuerst von 31 % auf 27 %, dann noch sehr viel weiter herunter - denn durch die tägliche Nutzung von Vorlese-Programmen ist der Screenreader-Nutzer gewohnt den Inhalt ausschließlich über das Hören aufzunehmen und hat somit Übung darin, die Informationen in einer sehr hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Was sich für uns angehört hat wie eine scheinbar unverständliche Kette aus Buchstaben, könnten auch der gesamte Alternativtext des ersten Bilds, der Titel oder der Untertitel des Dokuments gewesen sein, denn der Screenreader rattert das alles innerhalb von Sekunden herunter. Teilweise auch mit Sonderzeichen und semantischen Rollen, die man als sehende Person nicht erwarten würde (z.B. "Überschrift Ebene 1", "Link", usw.). Für den Screenreader-Nutzer, wie im Laufe des Gesprächs klar wird, sind das wichtige Elemente, um das Dokument nachvollziehen und wahrnehmen zu können. Das PDF, verrät er uns, nimmt er wahr, wie ein Display, bei dem man jeweils nur eine Zeile sehen kann. Zeile für Zeile führt er uns dann mit seinem virtuellen Cursor durch das Dokument. 

Drei Aspekte sind uns vor allem im Gedächtnis geblieben: Die Grundstruktur, die Navigation und der Lesefluss. Diese haben wir für Sie als „Insider“ zum Nachlesen zusammengefasst.

Insider Nummer 1:  Logische Grundstruktur 

Alles steht und fällt mit der Grundstruktur. Ein Beispiel: Damit der Screenreader-Nutzer sich sicher sein kann, überhaupt im richtigen PDF gelandet zu sein, ist es von Vorteil, wenn der Dateiname eine eindeutige, oftmals leicht abgewandelte Form des Titels darstellt. Beides wird vom Screenreader vorgelesen. 

Hin und wieder kommt es vor, dass der Screenreader etwas nicht wiedergeben kann, weil es in der PDF-Struktur gar nicht vorhanden ist oder an falscher Stelle steht. Das fällt in dem vorliegenden Dokument, das übrigens weitestgehend fehlerfrei ist, vor allem auf, als er versucht die Namen und Kontaktdaten im Impressum aufzurufen. Hier ist das Element der E-Mail-Adresse unter einer falschen Überschrift platziert. Das bedeutet, dass das Element im Strukturbaum nicht da ist, wo es stehen sollte und somit vom Screenreader-Nutzer erwartet wird. Und da die Vorlesereihenfolge des Screenreaders die Reihenfolge im Strukturbaum ist, ist es jetzt für den Screenreader-Nutzer unmöglich die gewünschte Information auf Anhieb zu finden. Er findet sie erst nach längerem Suchen. 

Warum das so wichtig ist? Das zeigt genau dieses Beispiel: Die E-Mail-Adresse ist eine wichtige Information im Text. In diesem Fall wäre es für einen Screenreader-Nutzenden trotz Screenreader weder möglich, Kritik zu äußern, etwas anzufragen oder die Adresse an jemanden weiterzuleiten. Dabei ist gerade die Kontaktaufnahme ein wichtiger Bestandteil des Dokuments.

Für die PDF-Barrierefreiheit sind erkennbare und richtig angeordnete Strukturmerkmale also insgesamt unerlässlich. 

Insider Nummer 2: Schnelle Navigation 

Besonders bei längeren Dokumenten, ist vielleicht nicht jeder Absatz und jedes Kapitel für jeden relevant. Das geht Screenreader-Nutzenden genauso wie jedem anderen Lesenden. Dem Inhaltsverzeichnis kommt dabei eine besondere Bedeutung zu - egal ob der Inhalt über das Sehen, das Hören oder das Fühlen erfasst wird. Hier werden bei barrierefreien PDFs häufig Sprunglinks verwendet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, sich nach Lust und Laune durch das Dokument zu bewegen, gegebenenfalls auch nichtchronologisch. Auch mit dem Screenreader kann Gebrauch von der Überschriftenfunktion gemacht werden. Es kann sich absatzweise durch das Dokument navigiert oder nach einzelnen Bestandteilen gesucht werden. Deshalb sind neben dem Inhaltsverzeichnis unbedingt auch der Aufbau und die Taggingstruktur, also die Struktur der getaggten Elemente auf den einzelnen Seiten relevant. Bestimmte Absätze, Überschriften und Alternativtexte können mit dem virtuellen Cursor übersprungen und damit praktisch überlesen werden. Unterschlagen werden sollten sie allerdings nicht. 

Insider Nummer 3: Lesefluss

Flüssig geschriebene Dokumente lesen sich besser. Das würden sowohl Menschen mit und ohne Sehbehinderung bestätigen. Beim Erfassen von Inhalten mit dem Screenreader fiel dabei bereits zum Beginn auf: Es wird einiges vorgelesen, das wir höchstens unterbewusst wahrgenommen hätten. Hat man in einem Dokument zwei Spalten, bei unserem Dokument zum Beispiel im Inhaltsverzeichnis, werden häufig Trennzeichen verwendet. Diese sehen auf den ersten Blick aus wie Bindestriche, haben aber weder einen semantischen noch einen grammatischen Gehalt. Sie sollen lediglich optisch ansprechend wirken. Für den Screenreader sind sie dann häufig nur ein Störfaktor, denn Screenreader-Nutzende müssen dann häufig zurückspringen und noch einmal genau hinhören, was genau für die Unterbrechung gesorgt hat. Das stört den Lesefluss erheblich. 

Bei Tabellen gibt es ein ähnliches Problem: Gerade Tabellen mit zwei Spalten sind für eine sehende Person vielleicht optisch ansprechender, für Screenreader-Nutzende wäre eine Definitionsliste aber oftmals sinnvoller. Diese nimmt der Screenreader-Nutzer in unserem Fall als intuitiver wahr und kann sich schneller darin zurechtfinden. 

Auch Alternativtexte können den Lesefluss stören. Deswegen stellt sich immer die Frage: Wie viel ist zu viel? Wie kann ein Informations-Overflow verhindert werden? Es ist immer eine schwierige Abwägung und oftmals einfach eine Sache von persönlicher Präferenz. Unser Ansatz "equal access for everyone" besagt, dass theoretisch für alle Bilder, die inhaltlichen Mehrwert bieten, Alternativtexte zur Verfügung stehen sollten, die die Screenreader-Nutzenden dann gegebenenfalls selbst überspringen können. Einen Guide über das Warum und das Wie von Alternativtexten haben wir vor einiger Zeit für Sie erstellt: Guide Alternativtexte

Fazit

Es ist fast unmöglich, die drei Insider voneinander getrennt zu betrachten. Es wurde uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass alle drei Aspekte sehr eng miteinander zusammenhängen. Finden alle drei Punkte ausreichend Beachtung, ist eine gute Grundlage geschaffen, dass der Inhalt des Dokuments für alle Menschen zugänglich ist.

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